Anderswo erschienen Marketing

Interview : « 95% des Lernens geschieht unbewusst »

Um ihre Produkte zu verkaufen und ihren Kundenstamm zu erneuern, ist die Tabakindustrie wie viele andere Branchen in den bei den Jugendlichen sehr beliebten sozialen Netzwerken aktiv. Anders als die traditionellen Medien profitieren diese jungen Plattformen von der mangelnden Bereitschaft der Behörden, Einschränkungen einzuführen. So können extrem wirksame Marketingstrategien umgesetzt werden, indem beispielsweise die Schlagkraft berühmter «Influencer» genutzt wird. Gespräch mit Julien Intartaglia1, Spezialist für Konsumentenverhalten, Dekan des Instituts für Kommunikation und Erlebnismarketing (ICME) und Dozent an der Hochschule für Wirtschaft Neuchâtel (HEG Arc), der für uns die Strategien dieser neuartigen Werbung entschlüsselt.

Was ist «unterschwellige» oder «subliminale» Werbung?

Julien Intartaglia (JI) : Um diese Frage zu beantworten, muss man verstehen, wie man zum Konsumenten wird. Wir haben zwei Arten, wie wir lernen. Zum einen gibt es das sogenannte explizite Lernen. Es beginnt bereits in der Kindheit, wenn unsere Eltern uns Werte, Ideen und Überzeugungen vermitteln, indem sie diese in Worte fassen. Diese Informationen sind bewusst und werden im Laufe der Zeit vermittelt. Das Gleiche gilt beispielsweise für Präventionsbotschaften, die vor den Gefahren des Rauchens warnen. Der größte Teil unseres Lernens findet jedoch nonverbal in unserem Unterbewusstsein statt. Studien aus Harvard haben gezeigt, dass mehr als 95 % dieser Lernerfahrungen unbewusst stattfinden. Wenn man beispielsweise von klein auf sieht, wie die Eltern oder das Umfeld rauchen, entsteht unbewusst eine soziale Vorstellung, die mit dem Tabakkonsum verbunden ist.

Aus neurologischer Sicht kann hier von einem oft zitierten Modell gesprochen werden: Das «System 1» oder «schnelle Denken», ein Denken, das sehr schnell, reflexartig geschieht und wenig Anstrengungen erfordert. Gestützt auf sehr einfach zu verarbeitende Elemente (Stereotypen, Klischees usw.) nutzt unser Gehirn das schnelle Denken laufend, um Entscheidungen zu treffen.

Die rasche Entwicklung und der phänomenale Erfolg der sozialen Netzwerke erklärt sich heute einerseits dadurch, dass sie diesen Reflex vollständig abdecken: Je einfacher der Reiz, umso lieber reagiert unser Gehirn. Dies ermöglicht ihm, Entscheidungen in wenigen Millisekunden automatisch im Unterbewusstsein zu treffen. Die Werbung stützt sich auf diese Tatsache. Dies wirft natürlich ethische Fragen auf.

Wie nutzt die Tabakindustrie diese Strategien?

JI : Die Tabakindustrie ist eine sehr intelligente Branche, die erkannt hat, dass sie ihre Produkte anders verkaufen muss. Vor diesem Hintergrund hat sie die Markteinführung „neuer” Formate (E-Zigaretten, Vapes usw.) vorangetrieben, die die Daten der letzten Jahrzehnte, die die Gefährlichkeit des Tabaks belegen, ausgleichen sollen. Diese neuen Produkte werden unter einem beruhigenden Blickwinkel präsentiert und in den sozialen Netzwerken bei jungen Menschen beworben, die ihre Hauptzielgruppe sind. Auf diese Weise wird ein impliziter Lernprozess organisiert, d. h. eine wiederholte Exposition gegenüber Reizen im Zusammenhang mit dem Konsum von Tabak- und Nikotinprodukten.

Hinzu kommt das Influencer Marketing, das in den sozialen Netzwerken weit verbreitet ist. Es stützt sich auf das Phänomen des sozialen Vergleichs, das seit den 1950er-Jahren in der Psychologie dokumentiert wird2. Kurz gesagt: Wir verhalten uns in erster Linie als soziale Wesen, als Nachahmer. Es scheint, dass wir über «Spiegelneuronen» verfügen, die uns helfen, die Gesten anderer zu entschlüsseln und uns gleichzeitig dazu verleiten, sie nachzuahmen. Steht beispielsweise in einer Sitzung eine Flasche Wasser vor jeder Person, reicht es aus, dass eine Person Wasser trinkt, um bei den anderen ein Nachahmungsverhalten auszulösen. Dies ist das Resultat eines unbewussten Einflussprozesses.

Die sozialen Netzwerke spielen stark mit dem Phänomen des sozialen Vergleichs: Man schaut auf die andern und ahmt sie danach nach. Alles funktioniert, als gäbe es beim Menschen eine Veranlagung zu einem Verhalten, das jegliches Bewusstsein beiseiteschiebt und sich aus der wiederholten Exposition dessen ableitet, was wir in den Netzwerken sehen. Das Fiese dabei ist, dass Tabakprodukte, anders als andere Produkte, aufgrund ihrer Zusammensetzung in der Folge selber zur Abhängigkeit führen.

Sollte in diesem Fall die Werbung im Internet nicht ganz einfach verboten werden?

JI : Ein Werbeverbot für Tabakprodukte in den Medien, einschliesslich in den sozialen Netzwerken, ist ein erster Schritt. Nicht vergessen werden dürfen aber die beiden anderen Sozialisationsagenten: die Eltern und die Gleichaltrigen. Deshalb bin ich dafür, dass die Kinder schon früh besser beim Konsum der sozialen Netzwerke und ihrer Funktionsweise begleitet werden. Die kontinuierliche, spielerische und immersive Prävention erscheint mir ebenfalls wichtig, um den freien Willen und den kritischen Geist jener zu kultivieren, die eines Tages mit den sozialen Netzwerken in Kontakt kommen werden. Da es nicht möglich ist, jede Form der Sichtbarkeit dieser Produkte zu verbieten, muss man auch verstehen, wie das Gehirn funktioniert, wie es Information verarbeitet und Entscheide trifft.

Warum zielen diese Kampagnen speziell auf die Jugendlichen?

JI : Die Generation Z verbringt pro Tag zwischen drei und fünf Stunden in den sozialen Netzwerken3, 2- bis 4-Jährige schauen täglich 39 Minuten Videos online (namentlich auf YouTube)4. Die Zahlen zeigen das Ausmass des Phänomens. Für Werbung in den sozialen Netzwerken gibt es meist keine Altersbeschränkung für die Besucherinnen und Besucher, noch erfordert sie eine Warnung oder klare Identifizierung des Produkts, wie den Tabakprodukten. Die Branche kann sie folglich nach Belieben bei potentiellen neuen Konsumierenden bewerben, um ihre Kundschaft zu erneuern.

Sie verwendet folglich mit ausgeklügelten Marketingstimuli Argumente, die das Vergnügen, den Spass, den Stressabbau preisen: einfach, bunt, mit Fruchtgeschmack … Die Produkte werden als gesund dargestellt, als Bestandteil der Freizeit, des Lifestyles und nicht als gefährliche Tabakprodukte. Die Marken haben den Tabakkonsum regelrecht neu erfunden: Sie schweigen die herkömmliche Zigarette tot und stellen die neuen Produkte als «gesünder» dar. Und ihre Strategie funktioniert. Die Tabakprodukte zum Erhitzen machten 2019 einen Markt von 7,3 Milliarden Dollar aus. Das Wachstums dieses Sektors wird zwischen 2020 und 2027 auf 32,8 % eingeschätzt. Es ist leicht verständlich, dass die Jugendlichen eine interessante Zielgruppe sind. 

Wie gross ist heute der finanzielle Anteil, den die Marken für das soziale Marketing aufwenden?

JI : Von den 6,9 Milliarden Investitionen in den Schweizer Werbemarkt im Jahr 2022 entfielen 41 % auf das Internet5. Im Jahr 2000 lag dieser Anteil noch bei nur 2 bis 3 %. Es ist eine Tatsache, dass sich Marken jedes Jahr mehr und mehr von den traditionellen Medien abwenden. Insbesondere im Internet und in den sozialen Netzwerken eröffnet sich ihnen die Möglichkeit, „Influencer-Marketing” zu betreiben. Influencer sind so etwas wie die Werbetafeln von heute. Aber viel effektiver: Influencer-Marketing ist dank der Nachverfolgung der Interaktionsrate (Reaktionen, Likes, Kommentare…) nachvollziehbar und messbar. Und im Gegensatz zu klar erkennbarer traditioneller Werbung wird Werbung über einen Influencer nicht mehr als solche identifiziert.

Unter dem Einfluss häufiger Inhalte bilden die Follower eine emotionale Bindung mit den Influencern auf, denen sie folgen. Ihr Verhalten, ob gut oder schlecht, schaffen ein «Priming», das heisst eine starke implizite Veranlagung, sie nachzuahmen.

Laut einer 2020 durchgeführten Studie6 arbeiten weltweit 55 Influencer mit über 600 elektronischen Zigarettenmarken zusammen. Einige Influencer haben mehrere Millionen Follower – mehr als die meisten Fernsehsender! – die eine interessierte Zielgruppe für Unternehmen darstellen!

Die sozialen Netzwerke bieten den Marken einen weiteren Vorteil: Sie aktivieren das Belohnungssystem des Gehirns und die Freisetzung von Dopamin, das heisst von Glückshormonen. Sie führen zur Vorfreude auf den Konsum der Inhalte und auf den Erhalt von Belohnungen (Likes, Views, Kommentare usw.). Je mehr man sich exponiert, umso mehr will man sich exponieren. Die sozialen Netzwerke sind ein Süchtigmacher, in denen Produkte positiv dargestellt werden können, um sie zu verkaufen, auch wenn das Produkt gesundheitsgefährdend ist.

Referenzen
  1. Autor von „Neuro-communication. Le cerveau sous influence“, erschienen bei De Boeck Supérieur im Jahr 2022. Sein YouTube-Kanal: youtube.com/@drjulienintartaglia

2. « A Theory of Social Comparison Processes », Leon Festinger, 1954, https://doi.org/10.1177/001872675400700202

3. Enquête annuelle sur l’usage des réseaux sociaux par la génération Z, Diplomeo et BDM, 2023, https://www.blogdumoderateur.com/etude-generation-z-reseaux-sociaux-2023/

4. Common Sense Media Bericht, 2020, https://www.commonsensemedia.org/research/the-common-sense-census-media-use-by-kids-age-zero-to-eight-2020

5. Institut Media Focus, https://mediafocus.ch/fr/publications/les-medias-traditionnels-perdent-du-terrain-en-2022/

6. J. Vassey et al. E-cigarette brands and social media influencers on Instagram: a social network analysis. Tob Control 2022;0:1–8. doi:10.1136/tobaccocontrol-2021-057053